Moderation: . Julia Tierbach, Universität Siegen
Manteltext für ein gemeinsames Symposium "Kritische Exklusionsforschung" von Thomas Hoffmann, Jan Steffens und Stefan Schuster (siehe Einzeleinreichungen):
Im aktuellen Teilhabebericht der deutschen Bundesregierung räumt der Minister für Arbeit und Soziales ein: „(…) Vom Ziel einer inklusiven Gesellschaft und Arbeitswelt sind wir leider noch weit entfernt“ (Heil 2021, S. 9). Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die im Zuge der 2006 verabschiedeten UN-Behindertenrechtskonvention entstandene Inklusionseuphorie, zunehmend einer breiten Ernüchterung weicht. Auch wenn in einigen Bereichen Fortschritte erzielt wurden, fällt die Bilanz im Ganzen negativ aus (Monitoring-Stelle UN-BRK 2019). Der ehemalige Leiter der Monitoring-Stelle, Valentin Aichele, spricht sogar von einem konventionswidrigen „Trend zur Exklusion“ (Aichele 2019, S. 7). Es erscheint paradox: Obwohl alle Inklusion zu wollen scheinen, sind wir nach wie vor „(…) mit einer Situation konfrontiert, in der wir über Inklusion in einer von Exklusion bestimmten gesellschaftlichen Wirklichkeit reden“ (Lanwer 2019, S. 117). Trotz vielfach sich verschärfender Exklusionsmechanismen wird im öffentlichen und fachwissenschaftlichen Diskurs erstaunlich wenig über exkludierende Bedingungen gesprochen (Kronauer 2015). Ferner wird die Ursache des Problems tendenziell immer noch bei den von Exklusion betroffenen Personen gesucht, damit individualisiert und darüber reproduziert. Ausgrenzende Strukturen, die gesellschaftliche Teilhabe verhindern und damit ein demokratisches Zusammenleben konterkarieren, geraten so aus dem Sichtfeld und werden unsichtbar gemacht (Steffens 2020).
Die drei Beiträge des Symposiums beschäftigen sich mit eben jenem Widerspruch zwischen dem menschenrechtlichen Anspruch der UN-BRK auf der einen Seite und gesellschaftlichen Exklusionstendenzen auf der anderen und stellen die Frage, wie Pädagogik, diesen Widerspruch zu analysieren und praktisch zu bearbeiten vermag. Dabei wird in Orientierung an einer Pädagogik der Befreiung (Hoffmann et. al. 2018) und der Perspektive der kulturhistorisch-materialistischen Behindertenpädagogik die Notwendigkeit einer kritischen Exklusionsforschung betont, indem „(…) Inklusion systematisch vom Standpunkt der Überflüssigen, der Ausgegrenzten, der Verdammten aus (…), vom Ort der Exklusion her“ (Jantzen 2018, S. 163) gedacht wird. Nur von einem solchen Standpunkt aus, so unsere Prämisse, ist es möglich, die konkreten Ausgrenzungsmechanismen und -dynamiken zu erkennen und Voraussetzungen für emanzipatorische (befreiende) Eingriffe zu schaffen. Einer so verstandenen kritischen Exklusionsforschung verpflichtet, werden im Symposium aktuelle Exklusionsmechanismen in den Blick genommen und Handlungsperspektiven aufgezeigt, diese zu überwinden. Dabei werden nicht zuletzt auch die Möglichkeiten und Grenzen der Pädagogik diskutiert, Inklusion zu verwirklichen sowie in diesem Kontext aktiv und gestaltend politische Schulterschlüsse zu suchen. Eine (Re-)Politisierung der Inklusiven Pädagogik hieße aus dieser Sicht, im Bündnis mit anderen politischen Akteur*innen den genannten Widerspruch im Hinblick auf eine demokratische und inklusive Zukunft gemeinsam zu bearbeiten.
Literatur
Aichele, V. (2019): Keynotevortrag. In: Skript zur Veranstaltung „Wer Inklusion will, sucht Wege“ – Zehn Jahre UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland. S. 3-7.
Heil, Hubertus (2021): Vorwort. In: Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Referat Information, Monitoring, Bürgerservice, Bibliothek (Hrsg.): Dritter Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen Teilhabe - Beeinträchtigung - Behinderung 2021. S. 8-11.
Hoffmann, Thomas; Jantzen, Wolfgang u. Stinkes, Ursula (Hg.) (2018): Empowerment und Exklusion. Zur Kritik der Mechanismen gesellschaftlicher Ausgrenzung. Gießen: Psychosozial-Verlag
Jantzen, Wolfgang (2018): Paranoider Raum und Grenze als Grundbegriffe einer Soziologie der Exklusion. In: Hoffmann, Thomas; Jantzen, Wolfgang u. Stinkes, Ursula (Hg.): Empowerment und Exklusion. Zur Kritik der Mechanismen gesellschaftlicher Ausgrenzung. Gießen: Psychosozial-Verlag. S. 143-167.
Kronauer, Martin (2015): Wer Inklusion möchte, darf über Exklusion nicht schweigen. Plädoyer für eine Erweiterung der Debatte. In: Jahrbuch für Pädagogik 2015: Inklusion als Ideologie. Frankfurt am Main: Peter Lang. S. 147-158.
Lanwer, Willehad (2019): Editorial. In: Behindertenpädagogik. Jg. 58, H. 2. S. 115-118.
Monitoring-Stelle UN-BRK (2019): Analyse. Wer Inklusion will, sucht Wege. Zehn Jahre UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte.
Steffens, Jan (2020): Intersubjektivität, soziale Exklusion und das Problem der Grenze. Zur Dialektik von Individuum und Gesellschaft. Psychosozial Verlag.
Symposium: Kritische Exklusionsforschung: Inklusive Pädagogik von konkreten Verhält-nissen her denken
Beitrag I
Die Forderung nach Inklusion in einer verkehrten Welt – entfremdungstheoretische Überlegungen zum Widerspruch von Wunsch und Wirklichkeit
MA. Stefan Schuster
Die Forderung nach Inklusion ist vor dem Hintergrund exkludierender Verhältnisse entstanden, von denen behinderte Menschen in besonderer Weise betroffen waren und nach wie vor sind (Schuster 2016). Welchen Sinn hätte es auch, in einer inklusiven Gesellschaft Inklusion zu fordern? Mit anderen Worten: Die Erfüllung des Wunsches nach Inklusion setzt die Überwindung der bestehenden Exklusion voraus (Lanwer 2015). Bereits zu Beginn der 1990er Jahre betonte Wolfgang Jantzen: „Wer von Integration redet, darf vom Ausschluß nicht schweigen“ (Jantzen 1993, S. 67). Angesichts der Exklusion, die in zentralen Lebensbereichen eher zu als abzunehmen scheint (Monitoring-Stelle UN-BRK 2019), und einem Inklusionsdiskurs, der zur Exklusion allzu oft schweigt (Kronauer 2015), hat die Mahnung von Jantzen an Aktualität nichts eingebüßt.
Ausgehend von der Annahme, dass eine Inklusionsforschung, die ihrem Namen gerecht werden will, auf eine kritische Exklusionsforschung nicht verzichten kann, richtet sich der Fokus des Vortrags auf die strukturelle Exklusion in der modernen Gesellschaft, die die soziale Entwicklungssituation (Vygotskij 2003) von behinderten Menschen in der (pädagogischen) Praxis maßgeblich bestimmt. Um Wunsch und Wirklichkeit zur Deckung zu bringen und pädagogische Eingriffe im Hinblick auf eine inklusive Zukunft anzubahnen, ist es unabdingbar, die Exklusion in ihrer konkret-historischen Gewordenheit und damit in ihrer potenziellen Veränderbarkeit zu begreifen. Hierfür wird der Entfremdungsbegriff als Denk- und Erkenntniswerkzeug in Anschlag gebracht, der es ermöglicht, dem Modus Operandi der strukturellen Exklusion in der Moderne auf die Spur zu kommen. Da der Entfremdungsbegriff mit unterschiedlichen Bedeutungen belegt wird, stellt sich zunächst die Aufgabe, seine Intension und Extension hinreichend zu bestimmen (Henning 2015). Einer geschichts-materialistischen Lesart folgend wird der Kern des Phänomens der Entfremdung als Verkehrung von Subjekt und Objekt gefasst, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sich die Produkte menschlichen Handelns hinter dem Rücken ihrer Schöpfer*innen verselbständigen und ihnen als fremde Macht gegenübertreten (Marx 2012). In einer entfremdeten Gesellschaft, so zeigt sich, können die von ihren Objekten dominierten Subjekte die Bedingungen, in denen sie leben, nicht oder nur sehr bedingt (mit-)gestalten und selbst bestimmen. Dieser Umstand gibt Anlass, das Verhältnis von Entfremdung und Demokratie näher zu beleuchten. Die Erläuterungen zum Entfremdungsbegriff erlauben es im Anschluss, die strukturelle Exklusion von behinderten Menschen als Ergebnis von Entfremdungs-prozessen zu interpretieren. Es wird deutlich, dass die Realisierung von Inklusion eine tiefgreifende Demokratisierung voraussetzt, die der Entfremdung entgegenwirkt. Abschließend gilt es, Rückschlüsse für eine Pädagogik der Ent-fremdung (Schuster 2023 in Vorbereitung) zu ziehen, die Demokra¬tisierungs¬prozesse befördert und einen Beitrag leistet, um die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu schließen.
Henning, Christoph (2015): Theorien der Entfremdung. Hamburg: Junius Verlag.
Jantzen, Wolfgang (1993): Das Ganze muß verändert werden. Zum Verhältnis von Behinderung, Ethik und Gewalt. Berlin: Edition Marhold.
Kronauer, Martin (2015): Wer Inklusion möchte, darf über Exklusion nicht schweigen. Plädoyer für eine Erweiterung der Debatte. In: Jahrbuch für Pädagogik 2015: Inklusion als Ideologie. S. 147-158.
Lanwer, Willehad (2015): Exklusion und Inklusion. Anmerkungen zu einer gegensätzlichen Einheit In: Jahrbuch für Pädagogik 2015: Inklusion als Ideologie. S. 159-173.
Marx, Karl (2012): Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. In: Marx- Engels-Werke Bd. 40. Berlin: Dietz Verlag. S. 465-588.
Monitoring-Stelle UN-BRK (2019): Analyse. Wer Inklusion will, sucht Wege. Zehn Jahre UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte.
Schuster, Stefan (2016): Entfremdet, verdinglicht und be-hindert. Versuch einer Dechiffrierung segregierender Mechanismen aus sozialhistorischer Perspek¬tive. Berlin: Lehmanns Media.
Schuster, Stefan (2023) (in Vorbereitung): Verkehrte Welt. Von der Praxis der Exklusion behinderter Menschen zum Grundriss einer Pädagogik der Ent-fremdung.
Vygotskij, Lev (2003): Ausgewählte Schriften. Band I. Arbeiten zu theoretischen und methodologischen Problemen der Psychologie. Berlin: Lehmanns Media.
Symposium: Kritische Exklusionsforschung: Inklusive Pädagogik von konkreten Verhältnissen her denken
Beitrag 2:
Soziale Isolation als mehrdimensionaler Analysebegriff einer interdisziplinären Inklusionsforschung? Psychische Entwicklung innerhalb transgenerationaler Exklusionsspiralen.
Dr. Jan Steffens, Universität Bremen
Spätestens seit den Schutz- und Quarantänemaßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie ist die gesundheitsschädigende Wirkung von sozialer Isolation im allgemeinen Bewusstsein der Gesellschaft angekommen. Neben den erheblichen Gesundheitsrisiken, zeigen Studienergebnisse seit vielen Jahren auch die beeinträchtigende Wirkung auf die psychische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen (Steffens 2020). Trotzdem fehlt es der aufkommenden Debatte um soziale Isolation derzeit noch an einem methodologischen Grundgerüst aufeinander verweisender wissenschaftlicher Kategorien. Außerdem mangelt es, ohne eine explizit interdisziplinär ausgerichtete Forschung, an einer gesellschaftskritischen Rahmung isolierender Bedingungen und ihrer Wirkungsdimensionen auf den Menschen. Dabei wäre ein Inklusions- und Teilhabeforschung, die sich im Kern mit Fragen der Überwindung von sozialer Benachteiligung und behindernden Lebensbedingungen auseinandersetzt, geradezu prädestiniert die komplexen Ebene in transdisziplinären Synthesen miteinander zu verbinden. Nicht nur hätten solche Synthesen das Potential einer mehrdimensionalen Untersuchung vielfacher Isolations- und Deprivationsformen, sie würden darüber hinaus neue Perspektiven eröffnen für eine gesellschaftspolitische Adressierung existierender Armuts- und Exklusionsspiralen, die transgenerational immer wieder aufs Neue isolierende Bedingungen und entsprechend Beeinträchtigungen für die psychische Entwicklung produzieren (Jantzen & Meyer 2014), aus denen es auf individueller Ebene allein kaum Entkommen gibt (Dörre et. al. 2013). Eine (sonder-)pädagogische Reduktion isolierender Bedingungen auf die Individuen erwiese sich aus dieser Perspektive nicht nur als ein festgezurrter Doppelknoten der Exklusion (Vidal 2018), in dem betroffene Personen als Ur-Sache der Verhältnisse verdinglicht und die Möglichkeiten der Entwicklung allein in ihre Verantwortung gestellt werden, sondern entspräche auch einer (Re-) Produktion der entfremdeten und stigmatisierenden Verhältnisse für die Subjekte. (Schuster 2016)
Im Vortrag soll stattdessen aus inklusionspädagogischer Perspektive ein Fokus auf die Gestaltung sozialer Entwicklungssituationen (Vygotskij 2003) stark gemacht werden, der gesellschaftliche wie politische Handlungsdimensionen miteinbezieht und sich dem Ziel vielfältiger Verwirklichungs- und Teilhabechancen für die Individuen widmet. Das Durchbrechen von Exklusionsspiralen, die Individuen in Lebensbedingungen sozialer Isolation und Benachteiligung fixieren (Solga & Dombrowski 2009) kann aus dieser Perspektive zweifelsohne als größte Herausforderung, sowohl für eine demokratische Gesellschaft, als auch eine Forderung nach Inklusion angesehen werden. Ziel des Vortags ist es anhand dieser Argumentationslinie die Notwendigkeit einer interdisziplinären und gesellschaftstheoretisch fundierten Inklusionsforschung aufzuzeigen, die sich nicht als neutrale Wissenschaft versteht, sondern dem grundlegenden demokratischen Ziel einer nachhaltigen Bekämpfung isolierender Bedingungen und Exklusionsmechanismen verschreibt.
Literatur:
Dörre, K.; Scherschel, K. & Booth, M. (2013): Bewährungsproben für die Unterschicht? Soziale Folgen aktivierender Arbeitsmarktpolitik. Frankfurt am Main
Jantzen, W. & Meyer, D. (2014): Isolation und Entwicklungspsychopathologie. In: Georg Feuser, Birgit Herz und Wolfgang Jantzen (Hg.): Emotion und Persönlichkeit, Bd. 10. Stuttgart: Kohlhammer Verlag, S. 38–63.
Solga, Heike & Dombrowski, Rosine, 2009. Soziale Ungleichheiten in schulischer und außerschulischer Bildung: Stand der Forschung und Forschungsbedarf. Arbeitspapiere 171. Hans-Böckler-Stiftung. Düsseldorf.
Schuster, S. (2016): Entfremdet, verdinglicht und be-hindert. Versuch einer Dechiffrierung segregierender Mechanismen aus sozialhistorischer Perspektive. Lehmanns Media.
Steffens, J. (2020). Auf das ‚Zwischen‘ kommt es an! Synchronisierte Interaktionen und deren Abwesenheit in sozialer Isolation. Behindertenpädagogik 59(2), 260–286.
Vidal Fernández, F. (2018): Soziale Exklusion, Moderne und Aussöhnung. In: Hoffmann,
Thomas; Jantzen, Wolfgang & Stinkes, Ursula (Hg.): Empowerment und Exklusion. Zur Kritik
der Mechanismen gesellschaftlicher Ausgrenzung. Gießen: Psychosozial-Verlag
Vygotskij, L. S. (2003): Das Problem der Altersstufen. In: Joachim Lompscher (Hg.): Lev Vygotskij Band II - Ausgewählte Schriften - Band 2. Arbeiten zur Entwicklung der Persönlichkeit. Lehmanns Media. Berlin. S. 53-90.
Diagnostik und Menschenrechte: Isolation und Entfremdung als pädagogisch-diagnostische Kategorien
Beitrag 3 des Symposiums „Kritische Exklusionsforschung“
Vor dem theoretischen Hintergrund der kulturhistorisch-materialistischen Behindertenpädagogik befasst sich der Beitrag mit der politischen Dimension diagnostischen Handelns in pädagogischen Feldern der Arbeit mit Menschen mit intellektueller Behinderung/Lernschwierigkeiten. Dabei wird mit Arendt ein Politikbegriff zugrunde gelegt, in dessen Mittelpunkt das „Zusammen- und Miteinander-Sein der Verschiedenen“ (Arendt, 1993, S. 9) steht, die sich politisch „nach bestimmten wesentlichen Gemeinsamkeiten in einem absoluten Chaos, oder aus einem absoluten Chaos der Differenzen“ (ebd.) organisieren. Als einsames Individuum, so Arendt, sei der Mensch a-politisch. Politik ereigne sich im „Zwischen“ und etabliere sich im „Bezug“ der verschiedensten Menschen untereinander (vgl. ebd., S. 11).
Die Positionen der beiden anderen Symposiums-Beiträge aufgreifend, wird dieser für die Pädagogik und Diagnostik im Kontext von Inklusion und Exklusion hoch aktuelle Politikbegriff um die Betrachtung des analytischen Potenzials der Begriffe Isolation und Entfremdung ergänzt und diesen gegenübergestellt. Im Unterschied zu einer einseitigen Verkürzung des Politischen auf die individuumzentrierte Anerkennung oder Wertschätzung von Verschiedenheit, wie dies beispielhaft im aktuellen Neurodiversitätsdiskurs zu beobachten ist (vgl. Ortega, 2009), soll anknüpfend an Tomasevksis 4-A-Schema staatlicher Menschenrechts-Verpflichtungen (Tomasevski, 2004) das emanzipatorische Potenzial diagnostischen Handelns im Sinne einer „Pädagogik der Befreiung“ (Paulo Freire) herausgearbeitet werden.
Diagnostik bei Menschen mit intellektueller Behinderung/Lernschwierigkeiten hat nur allzu oft zur Folge, ein „Zwischen“ und einen darauf aufbauenden pädagogischen „Bezug“ durch kategoriale Zuschreibungen und eine individualistische Perspektive zu verhindern. Ebenso wie der Begriff der Entfremdung verweist der Isolationsbegriff in diesem Zusammenhang auf behindernde gesellschaftliche Verhältnisse und Bedingungen, die es genauer zu analysieren gilt. Aus diagnostischer Sicht sind insbesondere die Naturalisierung und Verdinglichung menschlicher Fähigkeiten, Fähigkeitserwartungen und Entwicklungsmöglichkeiten kritisch zu reflektieren, wie dies u.a. im Kontext der Forschungsperspektive von (Dis-)Ableism gefordert wird (vgl. Buchner, Pfahl & Traue, 2015).
Jantzen (2005) hat dafür die Begriffe „Rehistorisierung und „rehistorisierende Diagnostik“ geprägt: „Eine Diagnose, die nicht von Anfang an unbedingt und unabdingbar mit dem Kampf um die Rückgabe aller zivilen Rechte im Einklang steht, ist ein Akt der Ausgrenzung und kein Akt der Befreiung und Anerkennung, der sie sein könnte.“ (Jantzen, 2012, S. 30) Diese politische Dimension der Diagnostik, die vor allem dann augenfällig wird, wenn institutionelle Machtverhältnisse, strukturelle Diskriminierung und die durch eine Behinderung veränderte soziale Entwicklungssituation des Individuums in das diagnostische Handeln einbezogen werden, spielt eine zunehmend wichtige Rolle im aktuellen Diskurs um eine „Diagnostik im Kontext inklusiver Bildung“ (Amrhein, 2016).
Am Beispiel erster Zwischenergebnisse des partizipativ angelegten EU-Projekts: „VEMAS – Verhalten macht Sinn“ (Leitung: Falkenstörfer, Hoffmann & Lambertz) soll deren Bedeutung für inklusive Bildungsprozesse konkretisiert werden. Zielgruppe dieses Erwachsenenbildungsprojekts sind Menschen mit einer Behinderung und sogenannten Verhaltensauffälligkeiten. Im Rahmen des Projekts wird gemeinsam mit dieser Personengruppe selbst und ihrem Umfeld ein umfangreiches Fort- und Weiterbildungskonzept entwickelt, das von der Prämisse geleitet wird, dass jedes Verhalten einen subjektiven Sinn hat, den es zu rekonstruieren und in einen gemeinsam geteilten Bedeutungsraum – im Sinne von Lev S. Vygotskijs Konzept der „Zone der nächsten Entwicklung“ – zu transformieren gilt.
Literatur
Amrhein, B., Hrsg. (2016). Diagnostik im Kontext inklusiver Bildung. Klinkhardt.
Arendt, H. (1993). Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass. Piper.
Buchner, T., Pfahl, L., & Traue, B. (2015). Zur Kritik der Fähigkeiten: Ableism als neue Forschungsperspektive. Zeitschrift für Inklusion, (2).
Jantzen, W. (2005). „Es kommt darauf an, sich zu verändern ...“ - Zur Methodologie und Praxis rehistorisierender Diagnostik und Intervention. Psychosozial.
Jantzen, W. (2012). Rehistorisierung unverstandenen Verhaltens und Veränderungen im Feld. Behinderte Menschen (4/5/2012), 30–45.
Ortega, F. (2009). The Cerebral Subject and the Challenge of Neurodiversity. BioSocieties (2009), 4, 425–445.
Tomasevski, K. (2004). Manual on Rights-Based Education. Global Human Rights Requirements Made Simple. UNESCO Bangkok.