Autor:innen:
Dr. Anja Morawietz | Pädagogische Hochschule Zürich
Dr. Oxana Ivanova-Chessex | Pädagogische Hochschule Zürich | Switzerland
Bildrezeption wird im Lehrplan 21 als eine der zentralen Kompetenzdimensionen im Bereich «Bildnerisches Gestalten» für den Zyklus 1 ausgewiesen (D-EDK, 2016, S. 377 ff.). Die Bildgespräche stellen eine fachdidaktisch etablierte Herangehensweise zur Einübung in die Bildrezeption dar (Uhlig, 2011), bei der sich Bildbedeutungen «im Zwischenraum von Bild und Betrachter[*innen]» (ebd., S. 369) entfalten. Zum Bezugspunkt und Gegenstand der Rezeption werden dabei vor allem Bilder aus der Kunst. Bei Bildgesprächen in Schulkontexten werden Kunstwerke heute meist als Reproduktionen bzw. als profane Farblaserkopien zur Rezeption vorgelegt. Ein Kunstwerk gelangt also in Form einer Laserkopie ins Klassenzimmer und wird (neu kontextualisiert und transformiert) zum pädagogischen Anlass der «Dialoge über Kunst» (Seel, 2011). Benjamin (1939/2007, S. 16) attestiert solchen technisch reproduzierten Bildern durch ihre Vervielfältigung und Zugänglichkeit den Verfall der Aura und zugleich eine Befreiung aus der Logik des Rituals (ebd., S. 18). Steyerl (2009) verteidigt viele Jahrzehnte später das digital transformierte «poor image» und die darin eingelagerte Transformation von «quality into accessibility, exhibition value into cult value, films into clips, contemplation into distraction» (ebd., S. 1). Die voranschreitende Digitalisierung und der Wandel vom analogen zum digitalen Bild ermöglichen es heute, Bilder von sehr guter Qualität im Unterricht zu nutzen, was bedeutet, dass die Frage nach dem Verhältnis von Kunstwerk und der Reproduktion neu justiert wird. Dies verleitet Schmidt (2019) dazu, das Potential von poor images im Zusammenhang mit einem postdigitalen «Bildhandeln» (ebd., S. 7) auszuloten.
Für den Schulkontext werfen diese Auseinandersetzungen mit sich wandelnden Bildphänomenen und -praxen sowie der zeitlichen, räumlichen und auratischen Fluidität des Bildes/Kunstwerkes Fragen auf, nämlich a) nach dem Verhältnis zwischen dem Kunstwerk und einer für pädagogische Zwecke angefertigten Kopie sowie b) nach performativen Praktiken und Umdeutungen, die Kunstwerke und ihre Reproduktionen in pädagogisch strukturierten Räumen spezifisch relationieren. Der Beitrag widmet sich diesen Fragen ausgehend von einem qualitativ-empirischen Forschungsprojekt, das auf plenare Gespräche zu Bildern aus der Kunst im regulären Unterricht des Zyklus 1 fokussiert. In einer praxeologischen (Reckwitz, 2003) und von Visual Culture Studies (Schade & Wenk, 2011) inspirierten Perspektivierung wird hier analysiert, wie sich Gespräche zu Kunst in der institutionellen Rahmung von Schule mit ihren je spezifisch geordneten Praktiken des Zeigens, des Sehens und des Deutens entfalten. Hierfür werden Unterrichtsgespräche zu Bildern aus der Kunst mit einer 360-Grad-Videokamera aufgenommen und in Anlehnung an das von Rabenstein und Steinwand (2016) vorgeschlagene Verfahren der Auswertung videographierter Daten analysiert. Im Beitrag werden Ergebnisse der Analyse im Hinblick auf vielfältige Modi der Herstellung einer Relation zwischen dem Kunstwerk und der Reproduktion in pädagogisch strukturierten Bildgesprächen zur Diskussion gestellt. Dabei wird die Rezeption historischer und zeitgenössischer Kunstwerke im Zyklus 1 kontrastiert und im Hinblick auf je spezifische Modi des Zeigens, Betrachtens und Deutens eines Bildes/Kunstwerkes untersucht. Abschliessend werden kunstpädagogische Überlegungen hinsichtlich der Bildungsbedeutsamkeit eines fluiden Bildes im Unterricht im Anschluss an das Verstehen des Kunstwerkes als «eine relationale Einheit unterschiedlicher Objekte, Praktiken, institutioneller Kontexte» (Feige, 2022, S. 189) formuliert.