Autor:innen:
Michael Ehlscheid | Universität zu Köln, Department Heilpädagogik und Rehabilitation, Professur Sonderpädagogische Grundlagen | Germany
Prof. Dr. Matthias Martens | Universität zu Köln, Department Erziehungs- und Sozialwissenschaften, Professur Empirische Schulforschung mit dem Schwerpunkt Unterrichtsentwicklung
Multiprofessionelle Kooperation wird in der bildungspolitischen Diskussion als eine der zentralen positiven Einflussfaktoren auf die Gestaltung von Schulentwicklungsprozessen gerahmt (Kunze & Reh, 2020). In Sinne einer wechselseitigen Ergänzung wird der Zusammenarbeit verschiedener unterschiedlicher Professionen hier pauschal eine innovative Kraft unterstellt, die die zunächst exteriore Norm der Weiterentwicklung schulischer Systeme produktiv umsetzt. Multiprofessionelle Kooperation erhält demnach als bildungspolitisch erwünschte individuelle Praxis den Stellwert einer Figur, die als geeignetes Instrument zur Lösung von strukturellen Problemen apostrophiert wird. Dies ignoriert viele Befunde der empirischen Bildungsforschung, die in prominent diskutierten quantitativen Modellen Kooperation als eine Frage der Intensitätsausprägung operationalisieren (Gräsel, Fußangel & Pröbstel, 2006), um darauf aufbauend in zahlreichen Studien nachzuweisen, dass ko-konstruktive Kooperationsformen, die als zentrale Innovationsmotoren gesehen werden, im Gegensatz zu eher loseren Formen der Zusammenarbeit die Ausnahme bleiben (Fußangel & Gräsel, 2014). Aus einer rekonstruktiv-praxeologischen Perspektive auf multiprofessionelle Kooperation als soziale Praxis wird deutlich, dass Kooperation nicht per se etwas ist, was erwünscht, intendiert oder als ausschließlich positiv betrachtet wird (Kunze & Silkenbeumer, 2018). Vielmehr wird sichtbar, dass Kooperation vielfach als ambivalente Bewegung zwischen den Polen Be- und Entlastung, gemeinsame versus getrennte Verantwortung sowie als stetiger Prozess der De- und Reprofessionalisierung betrachtet wird (Arndt, Bender, Heinrich, Lübeck & Werning, 2018; Blasse et al., 2019). Bezugnehmend auf die exteriore Norm des Wandels und die habitualisierten Routinen und Strukturen, die an Schule ausgeprägt sind und eine zentrale Rahmenbedingung für die Norm multiprofessioneller Kooperation darstellen, fokussiert unser Beitrag die Frage wie in multiprofessionellen Kooperationspraktiken das Verhältnis von Wandel und Persistenz bearbeitet wird.
Zur empirischen Betrachtung wurden an 13 „inklusiven“ Schulen der Primar- und Sekundarstufe 14 impulsgelenkte Gruppendiskussionen geführt, von denen zwölf multiprofessionell sowie zwei zur Kontrastierung monoprofessionell zusammengesetzt waren. Zur Identifikation des Verhältnisses von Normen und Habitus als wesentlichen Dimensionen soziale Realität wird das Material mit der Dokumentarischen Methode ausgewertet und interpretiert (Bohnsack, 2014).
Grundannahme der Dokumentarischen Methode im Anschluss an die Wissenssoziologie Mannheims ist die Leitdifferenz zwischen dem expliziten, theoretisch-reflexiven kommunikativen Wissen, das auch Normen und Selbstbilder umfasst (Orientierungsschemata) und dem konjunktiven Wissen, welches als impliziter oder auch habitualisierter Wissensbestand nicht bewusst verfügbar ist, sondern sich in kollektiven Handlungspraktiken in gemeinsamen (konjunktiven) Erfahrungsräumen manifestiert (Orientierungsrahmen) und somit das Handeln sowie das Selbstbild von Personen prägt und gleichzeitig hervorbringt. Aus praxeologischer Perspektive bedingt sich dieses Verhältnis notwendigerweise, da „die Orientierungsschemata ihre eigentliche Bedeutung erst durch die Rahmung, d.h. die Integration und ‚Brechung’ in und durch die fundamentale existenzielle Dimension der Handlungspraxis, erhalten, wie sie sich im Modus operandi des Habitus oder eben des Orientierungsrahmens vollzieht“ (Bohnsack, 2013, S. 251).
Zur Diskussion gestellt wird die Interpretation einer exemplarischen Sequenz aus der multiprofessionell zusammengesetzten Gruppendiskussion einer Gesamtschule. In einen umfassenden Fallvergleich eingebettet werden hieran die Widersprüchlichkeiten zwischen kommunikativer Positionierung und habituellen Orientierungen der Akteur*innen herausgearbeitet. Im Sinne der wissenssoziologischen Fundierung des Forschungsprojekts geraten über die Bezugnahmen auf die Norm der multiprofessionellen Kooperation Wandlungsprozesse bzw. gesellschaftliche und bildungspolitische Erwartungen an die Veränderung pädagogischer Praxis in den Blick. Persistenzen zeigen sich in Form der verhältnismäßig stabilen habituellen Muster, die einer Entwicklung im normativen Sinne häufig im Wege stehen.