Hintergrund und Zielstellung
Patienten/Patientinnen mit chronischen Erkrankungen erhalten Zugang zu medizinischen Rehabilitationsleistungen über den Rehabilitationsantrag. Seit langer Zeit besteht jedoch der Vorwurf, dass das Antragsverfahren zu aufwendig, bürokratisch und kompliziert sei. Da die Antragsformulare zudem wenig Raum für die Darstellung individueller Problemlagen bieten und die Vorstellungen sowie die Erwartungen niedergelassener Ärzte/Ärztinnen bezüglich der Rehabilitationsmaßnahme zu wenig einbezogen werden, stehen diese dem Antragsverfahren sowie der Rehabilitationsmaßnahme teilweise kritisch gegenüber (Deck et al., 2012; Schubert et al., 2012). Folgen sind eine Nichtinanspruchnahme oder eine verspätete Einleitung der Rehabilitationsmaßnahme aufgrund ausbleibender oder verzögerter Antragstellung.
Daher soll im Rahmen dieses rehapro-Modellprojekts unter Federführung der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg (DRV BW) ein Kurzantrag Rehabilitation (KUR) entwickelt, erprobt und evaluiert werden. Dabei soll ein vereinfachtes und verschlanktes Antragsformular einen niedrigschwelligen Zugang zu Rehabilitationsmaßnahmen über die Hausarztpraxis gewährleisten. Zudem soll der ärztliche Befundbericht stärker auf die individuellen Bedarfe (funktionelle Beeinträchtigungen, Rehabilitationsziele) ausgerichtet werden. Die Rehabilitationsmaßnahme kann so bedarfsgerechter durchgeführt und passgenauer in den Behandlungsprozess („Reha-Kette“) eingebettet werden.
Methoden
Voraussetzung für die Entwicklung eines Kurzantrags inkl. Befundbericht sind Kenntnisse über den Ist-Zustand sowie über die Veränderungsbedarfe. Daher wurden Interviews mit jeweils fünf Hausärzten/Hausärztinnen und medizinischen Fachangestellten, drei Rehabilitationsmedizinern sowie jeweils einem Mitarbeitenden der Sachbearbeitung und des sozialmedizinischen Dienstes der DRV BW durchgeführt. Im Fokus der qualitativen Datenerhebung standen die jeweiligen Einschätzungen und Erfahrungen mit den bisherigen Strukturen und Prozessen des Standardantragverfahrens sowie die Anpassungsbedarfe.
Ergebnisse
Im Gespräch mit der Sachbearbeitung wurden verzichtbare Inhalte identifiziert. So sind Merkmale, die der DRV bereits routinemäßig vorliegen (z.B. Beiträge, EM-/BU-Rentenbezug), in den Formularen überflüssig. Zudem gibt es Merkmale, die nur in Fällen bewilligter Rehabilitationsanträge erforderlich sind und damit im späteren Verlauf erhoben werden können.
Die Rehabilitationsmediziner stellten heraus, dass eine detaillierte und an der ICF orientierte Beschreibung des Patienten-/Patientinnenzustands erfolgen sollte. Hierdurch können bereits vor Anreise nicht nur die therapeutischen Schwerpunkte für den Rehabilitationsaufenthalt besser geplant, sondern auch besondere Bedürfnisse, wie bspw. ein MBOR- bzw. VMOR-Bedarf, besser identifiziert werden.
Im Rahmen der Interviews mit den Hausärzten/Hausärztinnen und dem sozialmedizinischen Dienst bestätigte sich, dass für die Beschreibung der individuellen Funktionseinschränkungen im Befundbericht bisher zu wenig Raum vorhanden ist. Hausärzte/Hausärztinnen beurteilten zudem die standardisierte Erfassung der Beeinträchtigung der Aktivitäten und Teilhabe anhand vorgegebener Kategorien und Ausprägungen negativ, da diese keinen Spielraum zur Darstellung der individuellen Einschränkungen lässt. Demgegenüber sei die ausführliche Anamnese nicht hilfreich und mit erheblichem Aufwand verbunden.
Angaben zu gewünschten therapeutischen Schwerpunkten durch Hausärzte/Hausärztinnen werden sowohl von Rehabilitationsmedizinern als auch von Hausärzten/Hausärztinnen selbst für nicht sinnvoll erachtet. Die Expertise hinsichtlich der bedarfsgerechten Gestaltung der Rehabilitation und der Auswahl der therapeutischen Inhalte läge bei der Rehabilitationsklinik. In diesem Zusammenhang sind Informationen zu den bisherigen Behandlungen und der jeweiligen Wirksamkeit für den Rehabilitationsmediziner unabdingbar.
Diskussion und Fazit
Die Interviewergebnisse dienten im Rahmen einer Fokusgruppe der Ausgestaltung des Kurzantrags inkl. Befundberichts. An dieser nahmen Hausärzten/Hausärztinnen, Rehabilitationsmediziner sowie die Sachbearbeitung und der sozialmedizinische Dienst der DRV teil.
Das Antragsformular beinhaltet nun ausschließlich Merkmale, die zur Prüfung der sozialversicherungsrechtlichen Voraussetzungen erforderlich sind, wobei auf redundante Informationen sowie Merkmale, die nur im Falle einer Bewilligung zu erheben sind, verzichtet wird. Ärztlicher Befundbericht und Selbsteinschätzungsbogen erlauben eine ICF-basierte medizinische Einschätzung des Rehabilitationsbedarfs sowie die Prüfung der Rehabilitationsfähigkeit und -prognose. So werden im Befundbericht die relevanten Funktionseinschränkungen aus hausärztlicher Sicht und im Selbsteinschätzungsbogen die Beschwerden sowie die daraus resultierenden Beeinträchtigungen aus Patienten-/Patientinnensicht erhoben. Ebenso werden Einschränkungen in den Bereichen Aktivitäten und Teilhabe sowie Kontextfaktoren aus den jeweiligen Perspektiven erfasst. So machen Hausärzte/Hausärztinnen Angaben zu Risikofaktoren und Patienten/Patientinnen äußern sich zu besonderen Lebensumständen und ggf. vorhandenen Beeinträchtigungen der beruflichen Teilhabe. Letztlich werden dadurch die Rehabilitationsprognose und -ziele sowie Erwartungen aus beiden Perspektiven erhoben.
Im weiteren Projektverlauf werden die neu entwickelten KUR-Formulare erprobt und aus Sicht aller am Antragsprozess beteiligten Professionen evaluiert.
Take-Home-Message
Mit Hilfe der Einbindung aller an der Antragstellung beteiligten Professionen konnte ein deutlich verkürzter Rehabilitationsantrag inklusive Befundbericht, der eine Zeitersparnis darstellt sowie eine ICF-basierte Einschätzung des Patienten-/Patientinnenzustands erlaubt, entwickelt werden.
Literatur
Deck, R., Scherer, M., Träder, J.-M., Pohontsch, N. (2012): Optimierung der Zusammenarbeit von Reha-Kostenträgern, Reha-Einrichtungen und ambulanter Versorgung. Projekt-Nr. 146, Lübeck. Institut für Sozialmedizin.
Schubert, M., Fiala, K., Grundke, S., Parthier, K., Behrens, J., Klement, A., Mau, W. (2012): Der Zugang zu medizinischer Rehabilitation aus Perspektive niedergelassener Ärzte – Probleme und Optimierungsmöglichkeiten. Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin, 22(05). 264-270.
Hintergrund und Zielstellung
Der medizinischen Rehabilitation kommt im Zuge des demographischen Wandels ein großer Stellenwert bei der Erwerbsteilhabe einer alternden Arbeitnehmerschaft zu. Nach dem Inanspruchnahme-Modell von Andersen (1995) bedarf es bezüglich der befähigenden individuellen Faktoren neben den Ressourcen (Versicherungsstatus, Einkommen) auch der Kenntnis der Betroffenen über die Wege Gesundheitsdienstleistungen in Anspruch nehmen zu können. Im Falle der medizinischen Rehabilitation ist die Informiertheit über Ansprechpartner, Adressaten und benötigte Unterlagen eine Grundvoraussetzung für eine Reha-Antragstellung in Deutschland, da diese durch die Betroffenen selbst erfolgen muss. In diesem Zusammenhang stellte sich die Frage, ob sich der Kenntnisstand über die Reha-Antragstellung bei älteren Beschäftigten nach soziodemographischer Gruppenzugehörigkeit unter Berücksichtigung gesundheitsbezogener Faktoren unterscheidet.
Methoden
In die Analyse gingen Angaben von 7514 sozialversicherten Beschäftigten der Jahrgänge 1959, 1965 und 1971 aus der 4. Welle der prospektiven lidA(leben in der Arbeit)-Kohortenstudie 2022/2023 ein. Bivariate Unterschiede in den Parametern der Informiertheit über die Reha-Antragstellung bezüglich Alter, Geschlecht, Bildung, beruflichem Anforderungsniveau, Migrationshintergrund, subjektiver Gesundheit und Teilhabe an einer Rehabilitationsmaßnahme in den letzten vier Jahren wurden mit 95%-Konfidenzintervallen dargestellt und mittels Chiquadrat-Test analysiert. Mittels multipler logistischer Regression wurden zudem Chancenverhältnisse in Bezug auf die Informiertheit berechnet.
Ergebnisse
Im Kenntnisstand über die Reha-Antragstellung zeigen sich Unterschiede zwischen soziodemographischen Gruppen. So sind weibliche und ältere Beschäftigte signifikant besser über Ansprechpartner, Adressaten und einzureichende Unterlagen für einen Reha-Antrag informiert als männliche und jüngere. Deutliche Lücken im Kenntnisstand zeigen sich diesbezüglich bei älteren Beschäftigten mit Migrationshintergrund in der ersten Generation (G1). Hier wusste jeweils nur rund jeder zweite wer Ansprechpartner und Adressat für einen Reha-Antrag ist. Nur zwei von fünf wussten welche Unterlagen für einen Reha-Antrag einzureichen wären. Auch nach Adjustierung für andere soziodemographische und gesundheitsbezogene Faktoren zeigen sich in der Gruppe mit G1-Migrationshintergrund signifikant geringere Chancen für die Kenntnis über diese Aspekte eines Reha-Antrages im Vergleich zu denen ohne Migrationshintergrund. Bei Beschäftigten mit Migrationshintergrund in der zweiten Generation zeigen sich diesbezüglich hingegen keine signifikanten Unterschiede. Am besten informiert sind ältere Beschäftigte, die bereits innerhalb der letzten vier Jahren eine Rehabilitationsleistung in Anspruch genommen hatten. Hier gaben jeweils über 85% an einen Ansprechpartner und Adressaten für einen Reha-Antrag zu kennen.
Diskussion und Fazit
Erwartungsgemäß sind Beschäftigte mit bereits stattgehabter Rehabilitation am besten über Aspekte der Reha-Antragstellung informiert. Die vorliegenden Ergebnisse zeigen allerdings einen unterschiedlichen Kenntnisstand in Abhängigkeit der soziodemographischen Gruppenzugehörigkeit auf. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede im Kenntnisstand über die Reha-Antragstellung decken sich mit der Beobachtung eines Geschlechtsunterschiedes im gesundheitsbezogenen Kenntnisstand auch in anderen Gesundheitsbereichen zu Gunsten von weiblichen älteren Beschäftigten (vgl. du Prel, Borchart, 2020). Mit zunehmendem Alter zeigt sich auch unabhängig vom Gesundheitszustand und bereits stattgehabter Rehabilitation eine bessere Informiertheit über die Reha-Antragstellung. Hinsichtlich der deutlichen Lücken im Kenntnisstand bei älteren Beschäftigten mit G1-Migrationshintergrund besteht bei ihnen der größte Bedarf über Adressaten, Ansprechpartner und einzureichende Unterlagen zu informieren. Die Verbesserung der Informiertheit über die Reha-Antragstellung in unterschiedlichen soziodemographischen Gruppen kann sich positiv auf die Reha-Inanspruchnahme und damit letztendlich auf die Erwerbsteilhabe älterer Beschäftigter auswirken. Dem kommt unter sozialen und ökonomischen Gesichtspunkten, sowie unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit in einer alternden Gesellschaft Bedeutung zu.
Take-Home-Message
Bei älteren sozialversicherten Beschäftigten bestehen soziodemographische Gruppenunterschiede im Kenntnisstand über die Reha-Antragstellung, wobei sich die größten Informationslücken in der Gruppe mit G1-Migrationshintergrund zeigen.
Literatur
Andersen RM. Revisiting the behavioral model and access to medical care: does it matter? J Health Soc Behav. 1995 Mar;36(1):1-10. PMID: 7738325.
du Prel JB, Borchart D. Betriebliche Gesundheitsförderung und Prävention bei älteren Beschäftigten im Geschlechtervergleich. In H. Jürges, J. Siegrist, M. Stiehler (Hrsg.): Männer und der Übergang in die Rente. Vierter Deutscher Männergesundheitsbericht der Stiftung Männergesundheit. Psychosozial-Verlag, Gießen 2020, S. 107-121. ISBN-13: 978-3-8379-3023-8. doi: 10.30820/9783837977042-107
Hintergrund und Zielstellung
Nach § 51 SGB V kann die Krankenkasse Versicherten, deren Erwerbsfähigkeit erheblich gefährdet oder gemindert ist, eine Frist von zehn Wochen setzen, innerhalb der sie einen Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation zu stellen haben. Bei Missachtung droht Leistungsentzug. Ähnlich verhält es sich bei Personen, die nach § 145 SGB III von der der Agentur für Arbeit aufgefordert werden, innerhalb eines Monats einen Antrag zu stellen. Auch hier werden Rehabilitationsmaßnahmen aufgrund gesetzlicher Bestimmungen eingeleitet und nicht aus Eigenmotivation der betreffenden Person heraus. In der bisherigen Forschung wird darauf hingewiesen, dass das Aufgefordert-Werden die Rehabilitationsmotivation, die Einstellung und den Rehaerfolg negativ beeinflussen kann (z. B. Bückers et al., 2001). Empirische Untersuchungen dazu gibt es allerdings nur sehr wenige und noch weniger ist über die Motivation dieser aufgeforderten Rehabilitand‘*innen und über die von ihnen wahrgenommenen Barrieren hinsichtlich der Rehabilitation bekannt. Nach Geelen und Soons (1996) hängt (Rehabilitations-)Motivation wesentlich mit den Umständen, Bedürfnissen, Erwartungen und Befürchtungen einer Person zusammen. Um erste Hinweise für die Entwicklung einer motivationsfördernden Intervention für aufgeforderte zukünftige Rehabilitand*innen geben zu können, war es Ziel der vorliegenden Studie, die Zusammenhänge zwischen Befürchtungen und Motivation in dieser spezifischen Zielgruppe zu analysieren.
Methoden
4000 aufgeforderte Versicherte der DRV Bund, DRV Braunschweig-Hannover und DRV Oldenburg-Bremen, deren Antrag auf medizinische Rehabilitation genehmigt wurde, wurden zu einer anonymen, querschnittlichen Befragung eingeladen. Um zu erfassen, wer die Reha überwiegend extern motiviert antritt, wurde gefragt, ob sie die Rehabilitation antreten würden, wenn sie frei entscheiden könnten. Rehabilitationsmotivation wurde mit der Skepsis-Subskala des PAREMO-20 (Nübling et al., 2005) und Bedenken mit adaptierten Items aus früheren Studien (Giesler et al., 2020; Glattacker et al., 2009) erfasst. Zur Analyse der Zusammenhänge von Befürchtungen und Rehabilitationsmotivation bzw. externer Motivation (ja/nein) wurden Pearson-Korrelationskoeffizienten, Cohen’s d und t-Tests berechnet.
Ergebnisse
Die Rücklaufquote liegt mit n = 792 bei knapp 20 %. Dabei beträgt der Anteil weiblicher Befragter 64,5 %. Das Durchschnittsalter liegt bei 53 Jahren (SD = 9,91; Range = 19–65). Laut eigner Angabe würden 74,5 % der Gesamtstichprobe die Rehabilitation auch antreten, wenn sie sich frei dazu entscheiden könnten; 22,9 % gaben dagegen an, extern motiviert zu sein. Für alle sind die zentralen Befürchtungen, die im Zusammenhang mit geringer Motivation stehen, dass auf ihre Belastungsgrenzen zu wenig Rücksicht genommen wird, sodass sie während der Rehabilitation überfordert sind und dass ihnen die Rehabilitation langfristig kaum etwas bringen wird. Extern motivierte aufgeforderte Rehabilitand*innen fürchten zudem negative Folgen im privaten Bereich (z. B. zu lange Abwesenheit von der Familie).
Diskussion und Fazit
In Übereinstimmung mit dem Motivationsmodell für die Rehabilitation von Geelen und Soons (1996) besteht eine der wichtigsten Befürchtungen dieser aufgeforderten Rehabilitanden im Zusammenhang mit externer und geringer Motivation darin, dass ihnen die Rehabilitation auf lange Sicht kaum etwas bringen wird. Demgemäß könnte die subjektive Wahrnehmung der Wahrscheinlichkeit eines positiven Rehabilitationsergebnisses von zentraler Bedeutung für die Motivierung der Zielgruppe sein. Die anderen Befürchtungen können unter wahrgenommene Kosten der Rehabilitation gefasst werden. Entsprechend der Theorie bedeutet dies, je höher diese Kosten eingeschätzt werden, desto geringer ist die Motivation. Diese Ergebnisse liefern erste Anhaltspunkte für eine zielgruppenspezifische Entwicklung einer webbasierten Intervention der DRV Oldenburg-Bremen. In dem im Bundesprogramm rehapro geförderten Modellprojekt sollen Versicherte, die zur Beantragung einer medizinischen Rehabilitation aufgefordert wurden, bereits im Vorfeld ihrer Rehabilitation unterstützen werden.
Take-Home-Message
Für zukünftige Rehabilitand*innen, die zur Antragsstellung aufgefordert wurden, sind die zentralen Befürchtungen, die im Zusammenhang mit geringer Motivation stehen, dass die Reha sie überfordern und ihnen langfristig kaum etwas bringen wird.
Literatur
Bückers, R., Kriebel, R., & Paar, G. H. (2001). Der "geschickte" Patient in der psychosomatischen Rehabilitation: Leitlinien für die sozialmedizinische Beurteilung und Behandlung von fremdmotivierten Patienten. Die Rehabilitation, 40(2), 65–71. https://doi.org/10.1055/s-2001-12483
Geelen, R. J., & Soons, P. H. (1996). Rehabilitation: An 'everyday' motivation model. Patient Education and Counseling, 28(1), 69–77. https://doi.org/10.1016/0738-3991(96)00871-3
Giesler, J. M., Klindtworth, K., Nebe, A., & Glattacker, M. (2020). Medizinische Rehabilitation bei MS: Barrieren und Facilitatoren der Inanspruchnahme aus Patientensicht. Die Rehabilitation, 59(2), 112–119. https://doi.org/10.1055/a-0965-0977
Glattacker, M., Heyduck, K., & Meffert, C. (2009). Entwicklung eines Fragebogens zur Erfassung des subjektiven Behandlungskonzepts von Rehabilitanden. Die Rehabilitation, 48(6), 345–353. https://doi.org/10.1055/s-0029-1234052
Nübling, R., Kriz, D., Herwig, J., Wirtz, M., Fuchs, S., Hafen, K., Töns, N., & Bengel, J. (2005). Patientenfragebogen zur Erfassung der Reha-Motivation (PAREMO-20).
Hintergrund und Zielstellung
Psychische Erkrankungen sind häufig und gehen mit hohen Lebensqualitäts- und Teilhabeeinschränkungen einher (Jacobi et al., 2014). Entsprechende Behandlungsangebote werden häufig zu spät in Anspruch genommen (Kivelitz et al., 2015). Das Modellprojekt SEMPRE der DRV Oldenburg-Bremen zielt darauf ab, einen rechtzeitigen Zugang in die psychosomatische Rehabilitation ermöglichen. Betroffene werden durch kooperierende Akteur:innen angesprochen, durch DRV-Lots:innen beraten und in ein zweitägiges ambulantes Angebot (Psychosomatischer Rehakompass: PRK) innerhalb einer psychosomatischen Rehabilitationsklinik vermittelt. Das Projekt besteht aus zwei Phasen.
Im Rahmen der Evaluation durch die Universität Oldenburg werden folgende Fragestellungen bearbeitet:
1. Werden psychisch belastete Personen entsprechend der Zielgruppendefinition frühzeitig erreicht und in die psychosomatische Rehabilitation gesteuert?
2. Ist sechs Monate nach dem ersten Lots:innenkontakt eine Verbesserung der psychosozialen Gesundheit zu verzeichnen?
Methoden
In einer Längsschnittstudie werden Teilnehmende zu Interventionsbeginn (T0) sowie sechs Monate später (T1) schriftlich befragt. Der Erhebungszeitraum der ersten Phase liegt zwischen 04/2021 und 12/2022. Der auswertbare Datensatz beinhaltet zu T0 n=118 Fälle und zu T1 n=87 Fälle. Für die erste Fragestellung wird der auswertbare Datensatz zu T0 und T1 einbezogen. Zur Bearbeitung der zweiten Frage werden Personen eingeschlossen, die zu T1 eine Teilnahme an der Lost:innenberatung und am PRK bestätigt haben (n=76). Psychosoziale Gesundheit wird mit dem HEALTH-49 (Rabung et al., 2009) gemessen. Zur Analyse der Zielgruppenerreichung werden die Skalenwerte der Studienpopulation mit entsprechenden Referenzwerten (Rabung et al., 2016) mittels t-Test für unabhängige Stichproben verglichen. Bezüglich der zweiten Fragestellung werden mögliche Veränderungen in den HEALTH-49 Skalen zwischen T0 und T1 durch t-Tests für abhängige Stichproben analysiert. Die Effektstärken werden mittels Cohen’s d bemessen.
Ergebnisse
Der Vergleich der T0-Stichprobe mit den Referenzwerten für gesunde Proband:innen ergibt in allen Skalen signifikant höhere Beeinträchtigungen bei der Studienpopulation. Im Vergleich mit den Referenzwerten von Patient:innen der stationären Rehabilitation liegen in vier Skalen keine signifikanten Unterschiede vor, in den verbleibenden sechs Skalen weist die T0-Stichprobe höhere Beeinträchtigungen auf. Zu T1 gaben 52 Teilnehmende an, eine psychosomatische Rehabilitation in Anspruch genommen zu haben (n=43) bzw. noch in Anspruch zu nehmen (n=9). Zur Auswertung der zweiten Fragestellung liegen je nach Skala n=74-76 Fälle vor. In neun Skalen werden signifikant niedrigere Beeinträchtigungen zu T1 gemessen, in einer Skala wird keine signifikante Veränderung festgestellt. In vier Skalen liegen große, in drei Skalen mittlere und in zwei Skalen kleine Effekte vor.
Diskussion und Fazit
Verglichen mit den Referenzwerten von gesunden Proband:innen zeigt sich eine höhere Beeinträchtigung der psychosozialen Gesundheit bei der Studienpopulation, sodass von einer Belastungssituation ausgegangen werden kann. Der Vergleich der Studienpopulation mit den Referenzwerten von Patient:innen der stationären psychosomatischen Rehabilitation weist auf eine ähnliche bis leicht höhere Beeinträchtigung der psychosozialen Gesundheit der Studienpopulation hin. Dies weist darauf hin, dass die Projektteilnehmenden nicht früher in ihrer psychischen Belastungssituation erreicht wurden. Eine evaluationsgeleitete, konzeptuelle Nachjustierung der Zielgruppenansprache könnte hier ansetzen, um in der zweiten Projektphase gemäß der Zieldefinition Personen früher zu erreichen. Sechs Monate nach Erstkontakt mit den Lots:innen wird eine Verbesserung der psychosozialen Gesundheit berichtet. Dieses Ergebnis könnte darauf hinweisen, dass die Projektteilnahme einen Prozess ausgelöst hat, welcher zur Verbesserung der psychosozialen Gesundheit geführt hat und bei über der Hälfte der Projektteilnehmenden zu einer zeitnahen Inanspruchnahme einer psychosomatischen Rehabilitation geführt hat.
Take-Home-Message
Sechs Monate nach dem ersten Lots:innenkontakt berichten die Projektteilnehmenden von einer höheren psychosozialen Gesundheit und mehr als die Hälfte hat zu diesem Zeitpunkt eine psychosomatische Rehabilitation in Anspruch genommen.
Literatur
Jacobi, F., Hofler, M., Strehle, J., Mack, S., Gerschler, A., Scholl, L., Busch, M.A., Maske, U., Hapke, U., Gaebel, W., Maier, W., Wagner, M., Zielasek, J., Wittchen, H.-U. (2014): Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung. Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmo-dul Psychische Gesundheit (DEGS1-MH). Der Nervenarzt, 85. 77-87.
Kivelitz, L., Watzke, B., Schulz, H., Härter, M., Melchior, H. (2015): Versorgungsbarrieren auf den Behandlungswegen von Patienten mit Angst- und depressiven Erkrankungen – Eine qualitative Interviewstudie. Psychiatrische Praxis, 42. 424-429.
Rabung, S., Harfst, T., Kawski, S., Koch, U., Wittchen, H.-U., Schulz, H. (2009): Psychometrische Überprüfung einer verkürzten Version der "Hamburger Module zur Erfassung allgemeiner Aspekte psychosozialer Gesundheit für die therapeutische Praxis" (HEALTH-49). Z Psychosom Med Psycho-ther, 55. 162-79.
Rabung, S., Harfst, T., Koch, U., Schulz, H. (2016): „Hamburger Module zur Erfassung allgemeiner Aspekte psychosozialer Gesundheit für die therapeutische Praxis (HEALTH)“ - Referenzdaten zur verkürzten 49-Item-Version „HEALTH-49“ (Stand: 15.01.2007). URL: http://www.hamburger-module.de/download/health-49-normen.pdf, Abruf: 26.10.2023.
Hintergrund und Zielstellung
Gemäß dem Grundsatz „Reha vor Rente“ sind Rehabilitationsleistungen gegenüber einer Berentung vorrangig. Bei durchschnittlich circa 40% der durch die Deutsche Rentenversicherung (DRV) jährlich neu bewilligten Erwerbsminderungsrenten (EMR) erfolgt jedoch in den fünf Jahren vor Gewährung keine medizinische bzw. berufliche Rehabilitationsmaßnahme (Märtin & Zollmann, 2013; Mittag et al., 2014). Im Großteil dieser Fälle ist von einem erheblich beeinträchtigen Gesundheitszustand auszugehen: In einer diesbezüglichen Versichertenbefragung kam für drei Viertel der Teilnehmenden eine Rehabilitation nicht in Frage, weil die Krankheit plötzlich auftrat, sich der Gesundheitszustand drastisch verschlechtert hatte oder eine Rehabilitation keine Besserung der Beschwerden versprach (Märtin & Zollmann, 2013).
Eine weitergehende medizinische Charakterisierung von EMR-Bewilligungen in Bezug auf vorhergehende medizinische Rehabilitationsleistungen (ML) liegt nicht vor und wird deshalb in dieser Studie untersucht.
Methoden
Basierend auf Daten des DRV Statistikportals wurden die EMR-Neuzugänge in 2022 hinsichtlich der ICD-10 Diagnosecodes und der ML in den 5 Jahren vor EMR-Bewilligung untersucht:
- Zunächst wurden die EMR-Neuzugänge gemäß ICD-10 (Krankheits-)Kapiteln gruppiert und hinsichtlich der Anzahl der ML (keine versus mindestens eine) vergleichend dargestellt. Dabei wurde auf die Kapitel mit >1.000 EMR-Neuzugängen fokussiert.
- Nachfolgend wurden innerhalb dieser Kapitel die spezifischen Erkrankungen (basierend auf den ICD-10 Diagnosecodes) hinsichtlich der Anzahl der ML vergleichend charakterisiert.
Ergebnisse
Von allen EMR-Neuzugängen in 2022 (n=163.907) hatten 40% keine und 60% mindestens eine ML. Zwischen den einzelnen Kapiteln zeigten sich diesbezüglich deutliche Unterschiede (s. Tabelle 1; Erläuterung: Bedingt durch ein formales Kodierungsvorgehen der DRV reflektieren die Fälle im Kapitel R00-R99 primär WfbM-EMR-Bewilligungen über die Wartezeitregelung).
Hinsichtlich der einzelnen Erkrankungen innerhalb der Kapitel wurden ebenfalls wiederkehrend klare Unterschiede erkennbar: Beispielsweise hatten im Kapitel F00-F99 die Fälle der Diagnosen F20-F29 („Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen“, gesamt n=4.553) in 70% keine ML während dies nur in 28% der Fälle mit F32 bzw. F33 („Rezidivierende] Depressive Episode“, gesamt n=33.886) der Fall war. Solche Unterschiede zwischen einzelnen Erkrankungen zeigten sich auch innerhalb der Kapitel C00-D48, G00-G99, K00-K93 und S00-T98.
Diskussion und Fazit
Wie aus medizinischer Sicht erwartbar zeigen die Daten des DRV Statistikportals deutliche Unterschiede zwischen Erkrankungen hinsichtlich der Anzahl vorhergehender ML. Bei vielen chronisch-irreversibel verlaufenden Krankheiten ist zum Zeitpunkt der Diagnosestellung eine relevante Besserung im Sinne einer (teilweise) wiederhergestellten Erwerbsfähigkeit durch ML nicht erreichbar (z.B. fortgeschrittene Tumorerkrankungen, degenerative neurologische Erkrankungen). Auch die Akuität und Schwere einer Erkrankung (z.B. schwere Schädel-Hirn-Traumata, ausgeprägte manische Phasen oder schwere depressive Episoden) bedingt oftmals eine zumindest temporäre Erwerbsminderung, die durch ML mittelfristig (innerhalb der nächsten 6 Monate) nicht wiederhergestellt werden kann. Im Gegensatz dazu zeigen sich bei phasenhaft verlaufenden Erkrankungen (z.B. rezidivierende depressive Störung) vor einer durch eine weitergehende Chronifizierung/Verschlechterung bedingten Berentung im langjährigen Verlauf häufig mehrere ML.
Aus dieser sozialmedizinischen Analyse wird deutlich, dass der Grundsatz „Reha (im Sinne der Tertiärprävention) vor (Erwerbsminderungs-)Rente“ für die oben charakterisierten Krankheiten bei ungünstiger Erwerbsprognose oft nicht anwendbar ist. Es ist zu vermuten, dass bei diesen Erkrankungen die Zahl der EMR-Neuzugänge insbesondere von Entwicklungen in der Primär- (z.B. neue Impfungen) und Sekundärprävention (z.B. verbesserte Diagnostik, neue Therapieoptionen) beeinflusst wird.
Take-Home-Message
Die Schwere und der klinisch-therapeutische Verlauf von Erkrankungen haben einen relevanten Einfluss auf die Rehabilitationsprognose und dadurch auf die sozialmedizinische Anwendbarkeit des Grundsatzes „Reha vor (Erwerbsminderungs-)Rente“.
Literatur
Märtin & Zollmann (2013); 22. Rehabilitationswissenschaftliches Kolloquium 2013, DRV-Schriften Band 101, Seite 109ff
Mittag, Reese, Meffert (2014); WSI Mitteilungen 2/2014, Seite 149ff