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Die Frühe Neuzeit war eine Epoche tiefgreifender gesellschaftlicher, politischer und religiöser Umbrüche, die in aller Regel noch immer durch die Linse bedeutender historischer Ereignisse, großer Persönlichkeiten und normativer Prozesse betrachtet wird. Doch wie erlebten Menschen am Rand der Gesellschaft diese Zeiten? Dieses Panel widmet sich der Ambivalenz von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit im Kontext frühneuzeitlicher Gerichtsbarkeit und gesellschaftlicher Marginalisierung. Im Fokus stehen Menschen, die sich als Mitglied einer Gemeinschaft am gesellschaftlichen Rand und somit in der sozialen Unsichtbarkeit wiederfanden, als (vermeintliche) Täter:innen jedoch einer ausgesprochen öffentlichen Sichtbarkeit ausgesetzt waren.
Unser Interesse liegt darin, zu untersuchen, wie sich Handlungsmotive wie Schmerz, Sehnsüchte und vergleichbare geistige, emotionale und körperliche Bedürfnisse, Ausdrucksformen und Handlungsspielräume von gesellschaftlich marginalisierten Personen anhand frühneuzeitlicher Gerichtsakten rekonstruieren und sichtbar machen lassen. Während die historische Kriminalitätsforschung in den vergangenen Jahrzehnten bereits bedeutende und wegweisende Erkenntnisse zu ähnlichen Fragestellungen gewinnen konnte (siehe u. a. Härter 2018; Loetz 2012; Schwerhoff 2011, 1999, 1991; Eibach 2003), eröffnen jüngere Forschungstrends und moderne (digitale) Hilfsmittel neue Möglichkeiten und Fragestellungen. So können beispielsweise sprachliche Charakteristika von Gerichtsverfahren mithilfe von Methoden der Digital Humanities identifiziert und analysiert werden. Dadurch lassen sich neue Erkenntnisse über Stimmungsbilder (sentiment analysis), Dynamiken und individuelle Handlungsspielräume innerhalb von Gerichtsprozessen gewinnen. Aber auch eine vertiefte Auseinandersetzung mit bislang kaum erforschten Delikten wie etwa suicide by proxy (indirekte Selbsttötung) bietet neue Einblicke in die Zusammenhänge von Emotion und Justiz in der Frühen Neuzeit. So kann das Phänomen der indirekten Selbsttötung, wonach Menschen bereit waren, für den seligen Tod auf der Richtstätte ein Kapitalverbrechen zu begehen, nicht ohne besondere Rücksicht auf das Wechselspiel geistiger, emotionaler und körperlicher Bedürfnisse erklärt werden.
Das vorgeschlagene Panel diskutiert Methoden, Konzepte und Zugänge zur Sichtbarmachung von Aspekten der historischen Forschung, die in frühneuzeitlichen Gerichtsakten bisher nur bedingt sichtbar gemacht wurden bzw. werden konnten. Zu diesem Zweck soll anhand einiger Fallbeispiele aus laufenden Forschungsprojekten berichtet und das ambivalente Wechselspiel zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit innerhalb der frühneuzeitlichen Gerichtsbarkeit näher beleuchtet werden.